Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Verzeihung des Unverzeihlichen? Ausflüge in Landschaften der Schuld und der Vergebung, Wien/Graz/Klagenfurt (Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens Bd. 14) 2008, 246 Seiten

 

Das Buch ist die meditative Essenz und Bilanz einer Gelehrten (seit 1993 Religionsphilosophin und vergleichende Religionswissenschaftlerin an der TU Dresden), die über die Erforschung der Renaissance, biographische Arbeiten vor allem zu Romano Guardini und Edith Stein, Auslotungen der Postmoderne und der Gender-Theorie nun schließlich alle Aufmerksamkeit und Konzentration dem Menschheitsthema „Schuld und Vergebung“ widmet. Ausgang ist ihr Vladimir Jankélévitchs bekannter Essay „Pardonner?“ (1971; deutsch „Das Verzeihen“, Frankfurt 2003), der die Unverzeihbarkeit und Unverjährbarkeit des Shoa-Verbrechen, speziell in Auschwitz, behauptet und begründet. Das „Heilsverbrechen“, ergänzt durch die verschiedenen Kreise des Gulag,  führt in die danteske Höllen überbietende Landschaften der Schuld und macht aus dem Geschehen eine „große Erzählung“ (Lyotard). „Landschaften“ sind der „Topos“, den die Autorin als „Seelenraum“ vor Augen stellt – von den „Inseln der Verfehlung“ bis zu den „Bergen des Heiles“ (22). Das sich präsentierende radikale Böse ist weit mehr als bloß Anlass einer bohrenden Theodizeefrage, es ist eine stete Versuchung zu Manichäismus und Gnosis, die von der christlichen Tradition seit Augustinus klar zurückgewiesen wurde. Es ist daher „von elementarer Wichtigkeit, die Selbstmächtigkeit des Guten als Freisein von einer Gegenmacht anzusehen“ (35) und dem Bösen keinen Rang der Notwendigkeit zuzuerkennen. „Es wird wohl zur tiefsten Beschämung des Bösen gehören, dass es sich letzten Endes als ganz und gar überflüssig, nichts befördernd herausstellen wird“ (39). Das Thema wird auf dem Hintergrund von Inkarnation und Passion Jesu der Patristik, Scholastik und Mystik gegenübergestellt, Meister Eckhart wird ebenso befragt wie Kierkegaard, Guardini, Simone Weil bis hin zum späten Derrida, Habermas und Ferdinand Ulrich. Phänomenologisch wird gegen den modernen Unschuldswahn mit seinem erbarmungslosen Optimismus die Ur-Schuld definiert: „Wo der Mensch das Sich-zu-eigen-Gegebensein steigern will: zur Selbstgabe, ursprunglos, danklos, indem er den Geber selbst usurpieren will (‚sein wie Gott’), ist Ur-Schuld realisiert“ (105). Daran knüpft der biblische Schuldmythos mit der monotheistischen Unterscheidung an, der in der Bergpredigt Jesu einen neuen Horizont erhält (53-58). Die „Gegenreden“ gegen Schuld und Erbsünde bei Nietzsche kommen ebenso zur Sprache wie die entschiedene Distanzierung Guardinis von Heideggers Ethiklosigkeit, sowie die Problematik von Rache und Reue (letztere im Blick auf Hildegard von Bingen). Mit Michel Henry (und darin Lévinas weiterführend) wird das Dasein als Ur-Gabe und das Umsonst jeder Ver-gebung beschrieben: Entspanntes Leben statt verkrampfter Selbstbehauptung. Mit Derrida muss Vergebung nun gerade zur Verzeihung des Unverzeihlichen kommen: „Ist es nicht eigentlich das einzige, was es zu verzeihen gibt?“ Gerl-Falkovitz ergänzt hier: „Übersetzt kann dies wohl nur bedeuten, dass es Absolution nur im Absoluten gibt – nicht im Relativen menschlicher ‚Verrechnung’“ (195). Vergebung „überholt“ damit auch Reue, macht sie nicht zur Bedingung, sondern zur Folge (245).  Mit Habermas’ Frankfurter Rede aus dem Jahr 2001 zieht die Autorin auch das religiöse Fazit, dass nur eine Auferstehung Gerechtigkeit für die Opfer des Bösen sichert (197f). Das hier nur ansatzweise in seinen faszinierenden Durchwanderungen vorgestellte Werk endet mit einem Zitat aus Hans Urs von Balthasars „Herz der Welt“ (1945) und Nietzsches verzweifelten Ruf, wo er denn bleibe, „der große Löser, o meine Seele, der Namenlose“. Die verschiedenen Landschaften der profunden und engagierten Autorin bieten auf vielen Seiten ganz einzigartige „Lichtungen“.

 

(aus: "Freiburger Rundbrief - Neue Folge" 2/2009)