SOLIDARITÄT MIT POLEN!

 

Denkanstösse

 

 

Widmung:

 

 

Mein Gefährte bei der Arbeit,

mein Gefährte im Kampf

für die Kirche Christi in Polen,

ich küsse dein brüderliches Antlitz.

Empfange als Zeichen des Gehorsams

zu deinen Füßen, die sich nun für viele Wege rüsten,

den Kuß des Primas von Polen.

 

Freude und Frieden gewähre dir

Unsere Liebe Frau von Jasna Góra,

heilige Mutter Gottes,

Polens Königin!

 

Mutter der polnischen Erde, freue dich,

du hast der Kirche ihren besten Sohn gegeben,

geprägt und gehärtet in den Schlachten

und Leiden der Nation.

 

Stefan Kardinal Wyszynski, Johannes Paul II. (16.Oktober 1978)

 

 

 

Die Besonderheit des deutsch-polnischen Verhältnisses in jenen Maitagen des Jahres 1832, in der Zeit des Hambacher Festes, ist nur aus den Ereignissen des historischen Jahres 1830 zu begreifen. Die Julirevolution, die Karl X. stürzte und Louis Philippe zum „Bürgerkönig“ aufsteigen ließ, war nicht nur die Initialzündung für die Erhebung des August 1830 in Belgien, die am 4.Oktober dieses Jahres zur Unabhängigkeitserklärung Belgiens von den Niederlanden führte, nicht nur der zündende Funke für die Unruhen in italienischen Kleinstaaten, denen erst österreichisches Militär ein gewaltsames Ende setzte, nicht nur Ermunterung zu Sommer-Krawallen in deutschen Bundesstaaten, gar mit gewissem revolutionärem Anstrich.

In Polen brach sich mit ungestümer nationaler Leidenschaft die lange unterdrückte Sehnsucht nach nationaler Selbstbestimmung Bahn. In Polen, das seine Eigenstaatlichkeit nach drei verhängnisvollen Teilungen – 1772, 1792 und 1795 – verloren hatte, das nicht mehr als Staat bestand, war der Traum von der Wiederherstellung eines eigenen Staates in der Sprache, auf der Kanzel und im dramatischen Spiel auf der Bühne lebendig geblieben. Die Hoffnung schwelte. Das „Krähen des gallischen Hahns“, wie Börne den Ausbruch der französischen Julirevolution nannte, war das Zeichen zum revolutionären Aufbruch.

Das Vorbild der französischen Julirevolution bewirkte einen allgemeinen Aufbruch. Sein erster Akt war der Überfall der Infanterie-Fähnrichschüler mit einer zivilen Verschwörergruppe auf die Residenz des russischen Statthalters. Dies ereignete sich am 20.November 1830. Die Anfangserfolge der polnischen Soldaten, die Tapferkeit des polnischen Volkes, der Kampf der Polen für das hohe Gut der Freiheit, dies weckte in Deutschland am Ende eines von „Kirchhofsruhe“ übermannten Jahrzehnts allenthalben einen Nachhaltigen Eindruck, ließ Sympathien aufsteigen, eine breite Öffentlichkeit feierte die polnische Insurrektion mit großer Begeisterung. Bis September 1831 sollten die wechselvollen Kämpfe anhalten. Das Schicksal der polnischen Erhebung, ihre Niederlage und der Exodus von vielen Tausenden militärischer und ziviler Mitkämpfer gegen das zaristische Rußland, die sich durch Deutschland nach Frankreich in die Emigration begaben, blieb nicht ohne tiefe Spuren. Polenkomitees konstituierten sich, Vereine zur ideellen und materiellen Hilfe. Geld und Leinwand-Charpie für die Verwundeten wurde gesammelt und nach Polen geschickt. Ärzte eilten vom Rhein zur Weichsel und berichteten mit beträchtlichem Presseaufwand über ihre Erlebnisse. Nach der Kapitulation von Warschau konzentrierte sich die Polenhilfe auf die durchziehenden Emigranten, die versorgt, ermuntert und gefeiert wurden.

Dies hatten die Deutschen bisher so nicht erlebt, nicht in dieser Massenbewegung, nicht in dieser Intensität, auch nicht bei den eigenen „Befreiungskriegen“, den „Freiheitskriegen“, die mindestens links des Rheines rasch in eine zwiespältige Bewertung und Beurteilung gerieten...

 

Dr. Anton Maria Keim, Hambach 1832-1982, Mainz 1982, Seite 209f.

  

 

 

Während auf dem Hambacher Fest im Mai 1832 die Teilnehmer mit der polnischen Delegation gemeinsam ein Fest der Freiheit und Brüderlichkeit feierten, bereiteten die Einwohner von St.Wendel den in der Stadt ankommenden polnischen Emigranten spontanen Beifall. Die auf den Straßen versammelten Bürger sangen die polnische Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“, es wurden Hochrufe ausgebracht auf das „freie, edle Polen“. In Huldigung für die Bewohner am Rhein, für die Völker Frankreichs und Englands und als Anerkennung für die Solidarität mit Polen verfaßte Heinrich Laube sein Gedicht:

 

                        O singt, singt, ihr Männer am Rhein,

                        An der Seine,

                        An der Themse,

                        Schicket Legionen Lieder aus,

                        Damit die Kunde

                        Vom polnischen Ruhme und Unglück

                        Nicht untergeh´-

                        Und mahne und mahne

                        Wie der ungestümste Gläubiger!

 

Mit dem Eintreten für die Freiheit Polens am Anfang dieses vierten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts gegen das autokratische Rußland als Garant der Reaktion und der Politik der „Heiligen Allianz“ sprach sich in Deutschland die Sehnsucht nach Freiheit im eigenen, einigen Vaterlande aus. „Für unsere und eure Freiheit“ – es war ein symbolisches Ereignis, wenn beim Hambacher Fest vom Schloßturm schwarzrotgoldene Fahne und weißrote Polenfahne nebeneinander vom Turme flatterten.

 

Ebd. Seite 227.

 

 

 

„Das ungeheure Schicksal so vieler edlen Märtyrer der Freiheit, die, in langen Trauerzügen Deutschland durchwandernd, sich in Paris versammelten, war in der Tat geeignet, ein edel gefühlvolles Herz bis in seine Tiefen zu bewegen. Aber was brauch ich dich, teurer Leser, an diese Betrübnisse zu erinnern, du hast in Deutschland den Durchzug der Polen mit eignen tränenden Augen angesehen, und du weißt, wie das ruhige, stille deutsche Volk, das die eignen Landesnöten so geduldig erträgt, bei dem Anblick der unglücklichen Sarmaten von Mitleid und Zorn so gewaltig erschüttert wurde und so sehr außer Fassung kam, daß wir nahe daran waren, für jene Fremden das zu tun, was wir nimmermehr für uns selber täten, nämlich die heiligsten Untertanspflichten beiseite zu setzen und eine Revolution zu machen .... zum Besten der Polen.“

 

Heinrich Heine in „Ludwig Börne – Eine Denkschrift“

 

 

 

 

In der Schenke

 

Am Jahrestag der unglücklichen Polenrevolution

 

Unsre Gläser klingen hell,

Freudig singen unsre Lieder;

Draußen schlägt der Nachtgesell

 Sturm sein brausendes Gefieder,

Draußen hat die rauhe Zeit

Unsrer Schenke Tür verschneit.

 

Haut die Gläser an den Tisch!

Brüder, mit den rauhen Sohlen

 Tanzt nun auch der Winter frisch

Auf den Gräbern edler Polen,

   Wo verscharrt in Eis und Frost

Liegt der Freiheit letzter Trost.

 

Um die Heldenleichen dort

Rauft der Schnee sich mit den Raben,

Will vom Tageslichte fort

Tief die Schmach der Welt begraben;

Wohl die Leichen hüllt der Schnee,

Nicht das ungeheure Weh.

 

Wenn die Lerche wieder singt

Im verwaisten Trauertale,

Wenn der Rose Knospe springt,

Aufgeküßt vom Sonnenstrahle:

Reißt der Lenz das Leichentuch

Auch vom eingescharrten Fluch.

 

Rasch aus Schnee und Eis hervor

Werden dann die Gräber tauchen;

Aus den Gräbern wird empor

Himmelwärts die Schande rauchen,

Und dem schwarzen Rauch der Schmach

Sprüht der Rache Flamme nach.

 

Nikolaus Lenau, * 1802 in Csatád/Ungarn  + 1850 in Oberdöbling b.Wien

 

 

 

 

 

 

 

Der ausgewanderte Pole

 

Noch hält auf uns der Zwingherr seine Hand,

Wir werden in die Heimat heimgetrieben.

Nicht wahr, man soll sein Vaterland doch lieben

 Und nicht zerreißen dieses letzte Band?

 

Nicht wahr, der Mannestugend erstes Pfand,

Der reinste, heiligste von allen Trieben,

Die selbst Natur uns in das Herz geschrieben,

Das ist die Liebe zu dem Vaterland?

 

Das weiß ich an den Fingern herzuzählen

Und mag dir meinen Haß – was wirst du sagen? –

Zu meinem Vaterlande nicht verhehlen.

 

Weh, daß ich Vater bin und frönen muß!

Eh sollte mich zum Blutgerüste tragen,

Als in das fluchbeladne Land mein Fuß.

 

Adalbert von Chamisso, *1781 auf Schloß Boncourt/Frankreich   +1838 in Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

AUFRUF  AN  DIE  DEUTSCHEN:

 

 

„ Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit! Ohne Polens Freiheit kein dauernder Friede, kein Heil für alle anderen europäischen Völker (...)“.

„(...) wir wollen zuerst alle unsere deutschen Brüder auffordern, und die anderen Nationen werden uns folgen, in allen deutschen Ländern Unterschriften von Männern zu sammeln, welche bereit sind, Gut und Blut für die Befreiung Polens zu opfern, und wenn ihre Zahl groß genug geworden, dann einen unserer Fürsten bitten, sich an unsere Spitze zu stellen zu dem Kampfe für die Rechte einer vor den Augen der civilisirten Welt grenzenlos elend gemachten Nation. – Und die Fürsten müssen es zulassen, wenn noch ein Funke von Menschlichkeit in ihrer Brust lodert ... Denn sorgen wir nicht in Zeiten dafür, daß dem Vergrößerungs-System des nordischen Colosses gegen Westen hin ein Damm entgegengesetzt werde, so haben wir früher oder später gleiches Los mit Polen zu erwarten. Und wie können wir einen stärkeren Damm errichten, als wenn wir Polen wieder herzustellen suchen! Daher frisch zur Tat! – Lasset Adressen an alle deutschen Volksstämme und an alle anderen Nationen ergehen, worinnen sie zur Teilnahme an diesem heiligen Kampfe aufgefordert werden ... Drum fordert auf zum Kampfe für Polens Wiederherstellung, es ist der Kampf des guten gegen das böse Princip! – Es ist der Kampf für die edle Sache der ganzen Menschheit! – Es ist das Sühn-Opfer, welches die civilisirten Völker jetziger Zeit den Enkeln der großen polnischen Nation bringen müssen, um den Schandfleck wieder abzuwaschen, welchen die scheußliche Politik des vorigen Jahrhunderts durch die Teilung Polens dem deutschen Namen aufgedrückt hat!“

 

Rede des „wackeren Fitz, Bürger zu Dürkheim“ auf dem Hambacher Fest; ebenfalls Verfasser des folgenden Gedichts „Der Polen Mai“, nach einer Übersetzung aus dem Polnischen.

 

 

 

 

Der Polen Mai

 

 

Brüder laßt uns gehn mitsammen

In des Frühlings Blumenhain,

Lasset unsre Herzen flammen

Hier im innigsten Verein.

Lieber Mai, holder Mai! –

Winters Herrschaft  ist vorbei! –

 

Einst in solchen Maientagen

Ward ein Kleinod uns geschenkt,

Muß das Herz nicht feurig schlagen

Wenn es jener Zeit gedenkt?

Gott verleih! Gott verleih!

Daß erblüh` ein solcher Mai.

 

Ach es haben Feindes Mächte

Dieses Kleinod uns geraubt,

Von dem teuersten der Rechte

Kaum zu sprechen uns erlaubt.

Trüber Mai, trüber Mai! –

Wenn ein Volk nicht froh, nicht frei.

 

Von dem Joche des Tyrannen

Suchten wir uns zu befreien,

Manche Schlachten wir gewannen

Glaubten schon daß frei wir seyen.

Sangen frei, komm herbei

Du ersehnter Freiheits-Mai.

 

Doch wir mußten unterliegen

 Feindes-Übermacht und Ränken,

Möge Gott, der uns zu siegen

Nicht vergönnt, den Tod uns schenken.

Trüber Mai, trüber Mai! –

Wenn ein Volk in Sclaverei! –

 

Eine Hoffnung knüpft ans Leben

 Uns verbannte Polen wieder,

Unsre Freiheit zu erstreben

Werden helfen deutsche Brüder!

Gott verleih, daß es sey!

Dankfest dann dem neuen Mai!

 

 

 Als Erwiderung wurde ein „Deutsches Mailied“ gesungen, dessen erste Strophe „Polens Klage“ ans Herz legte:

 

 

Hört deutsche Brüder Polens Klage

Sie dringt an jedes Mannes fühlend Herz;

Wem nicht der Polen trauervolle Lage

Erpresset ein Gefühl von Scham und Schmerz,

Den mag ich nimmer Bruder nennen,

Er kann für Edles nie entbrennen; -

Er machet Schand der deutschen Nation,

Ihm zeige jeder Biedre Spott und Hohn!

 

 

„ Es lebe das freie Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten! Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!“

 

Ph. J. Siebenpfeiffer, Hambacher Schlußappell am 28. Mai 1832

 

 

 

 

 

 

 

                                    DIE  LETZTEN  ZEHN

 

 

                                    In Warschau schwuren tausend auf den Knien

                                    Kein Schuß im heilgen Kampfe sei getan.

                                    Tambour schlag an!

                                    Zum Blachfeld laßt uns ziehen,

                                    Wir greifen nur mit Bajonetten an!

                                    Und ewig kennt das Vaterland

                                    Und nennt mit stillem Schmerz

                                    Sein viertes Regiment.

 

                                    ( ... )

 

                                    Von Polen her, im Nebelgrauen, rücken

                                    Zehn Grenadiere in das Preußenland

Mit dumpfem Schweigen, grau-umwölkten Blicken

Ein „Wer da?“ schallt – sie stehen festgebannt –

Und Einer spricht: „Vom Vaterland getrennt –

Die letzten Zehn vom vierten Regiment!“

                       

                                    Julius Mosen

                                    (bekanntestes deutsches Polenlied)

 

 

 

 

 

Fast genau 150 Jahre nach der Huldigung des polnischen Freiheitskampfes auf dem Hambacher Fest begann nach der Ausrufung des „Kriegsrechtes“ am 13. Dezember 1981 die Emigration des polnischen Priesters, Auschwitz-Häftlings und Gründers der „Oase-Bewegung Licht-Leben“ Franciszek Blachnicki. Er verstarb am 27. Februar 1987 in Carlsberg, nur wenige Kilometer von Hambach/Neustadt entfernt, im Alter von 65 Jahren und wurde dort begraben.

Im Jahre 2001 wurde seine sterblichen Überreste nach Kroscienko n. Dunajcem in den südpolnischen Beskiden übertragen. Dort befindet sich das geistliche Zentrum der Oase-Bewegung. Die Diözese Kattowitz bemüht sich um die Seligsprechung von F. Blachnicki, dessen pastorale Initiativen beim Papstbesuch in Krakau am 18. August 2002 besonders gewürdigt wurden.

 

 

 

 

 

 

 

FÜR POLEN

 

März 1846

 

 

Das Lied vom Rhein – es klang so hell

Im Süden gestern noch und Norden;

Wie ist das Weiße doch so schnell

In Deutschland wieder schwarz geworden!

 

Wo stob er hin, der Sängerchor?

Und warum schweigt er heut so stille?

Ach! er erschien, ach! er verlor

Sich – immer nach der Herren Wille.

 

Was gestern Recht war für den Rhein,

Ist`s  heute nicht auch Recht für Polen?

Soll Polen nicht auch Polen sein,

Weil wir als Räuber mitgestohlen?

 

Ist Fürstenwort solch Zauberwort,

Daß es kann Tag in Nacht verkehren?

Sind Herz und Hirn bei uns verdorrt?

Und läßt Vernunft sich so entehren?

 

Vergaßet ihr das Einmaleins,

Ihr unergründlich tiefen Denker,

Ihr Zionswächter unsres Rheins

Und jeder fremden Freiheit Henker!

 

O deutsches Volk, das hoffend drängt

Sich an der reichen Zukunft Schwelle,

Was auch die Sterne dir verhängt,

Sei nicht des Zaren Spießgeselle!

 

Horch auf den Sturm, der neu erbraust,

Auch deine Frucht vom Baum zu schütteln,

Eh eisige Barbarenfaust

Dich wird aus deinen Träumen rütteln!

 

Tritt nicht, was du bei dir gesät,

In fremdem Land mit Rosseshufen;

Nicht deine eigne Majestät

In Völkern, die nach Freiheit rufen!

 

Du suchst dich selbst aus tiefem Grund

Der harten Knechtschaft aufzuschwingen,

Willst du dein Joch zur selben Stund

Den andern auf den Nacken zwingen?

 

Soll noch einmal im wilden Streit

Hinmorden unsrer Kinder Lanze

Die ewige Gerechtigkeit

Dem alten Gleichgewichtspopanze?

 

Weh über uns in solchem Krieg!

Wir wandeln keine Ruhmesbahnen.

Ich rufe: den Empörern Sieg!

Und jede Schmach auf deutsche Fahnen!

 

Georg Herwegh, *1817 in Stuttgart   +1875 in Baden-Baden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MESSIANISMUS

 

Der Glaube an den Messias und die Lehre vom Messias gehen auf vorchristliche Zeit zurück, doch der Begriff „Messianismus“ ist relativ jungen Datums. Geprägt wurde er von einem Polen, der ausschließlich auf französisch schrieb, Jozef Maria Hoene-Wronski, der im Jahre 1831 unter dem Titel „Prodrome du Messianisme“ den ersten Teil seines Hauptwerkes „Messianisme. Union finale de la philosophie de la religion“ veröffentlichte. Dieses Buch fand kein größeres Echo, bis der Mystiker Andrzej Towianski und vor allem der größte Dichter der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, die Idee Wronskis aufgriffen.

Die polnischen Messianisten nahmen im Grunde den Faden des von Joachim von Fiore begründeten Chiliasmus (Millenarismus) auf, den sie in die Sprache der Philosophie des 19.Jahrhunderts übersetzten. Die besondere Aufmerksamkeit der Messianisten galt dem Subjekt der kollektiven Erlösung. Die Rolle des Paraklet übernahm in ihrer Konzeption ein auserwähltes Individuum bzw. eine auserwählte Nation. In seiner verbreitesten Version war der polnische Messianismus ein nationaler Messianismus.

Der „Tod Polens“ nach dem Scheitern des Novemberaufstandes (1831)  nahm eine eschatologische Bedeutung an, sein Leiden war eine notwendige Bedingung der geistigen, dann aber auch der realen Wiedergeburt nicht nur Polens selbst, sondern der ganzen Welt. Polen mußte, von der Welt verlassen, im Grabe liegen, um durch eigene geistige Anstrengung, durch die Opferbereitschaft der Polen zum ersten Platz unter den europäischen Nationen vorzustoßen, ihr anerkannter Führer im Kampf gegen jegliche Tyrannei um die Freiheit der Völker zu werden ... Da die Freiheit unteilbar ist, kann die Befreiung Polens nur zusammen mit der Befreiung der gesamten Menschheit erwirkt werden, in dem „allgemeinen Krieg für die Freiheit der Völker“, um den Mickiewicz betete.

Der polnische Messianismus war somit die Negation schlechthin des Nationalismus. Der Primat Polens sollte ein Primat des Leidens und der Aufopferung für die ganze Menschheit sein. Die Mission und der herausgehobene Status der Polen als eine unterdrückte, aber nicht kapitulierende Nation sollten ihnen gewissermaßen zu einem normalen Status, zu den natürlichen Rechten verhelfen, wie sie alle Nationen genießen.

Für Haß und Xenophobie war im polnischen Messianismus kein Platz. Bezeichnend war in dieser Hinsicht das Verhältnis zu den Juden: Israel, das Volk, das dem Buch die Treue hielt und sich dank dessen nicht in die jeweilige Umgebung auflöste, in die das Schicksal es geworfen hatte, war für die polnischen Messianisten der „ältere Bruder“, das Vorbild an Treue zu sich selbst und seinen Idealen, das durch sein Verdienst, Gottes Wort bewahrt zu haben, für die Menschheit unentbehrlich geworden war.

( ... )

Der von Mickiewicz erwartete „nationale Messias“ sollte jene Rolle ausfüllen, die Max Weber als charismatische Führung bezeichnet hat. Während der polnische Messianismus allen Völkern der Welt die Freiheit bringen wollte, verkündete die Idee des „Kulturträgertums“(Treitschke), daß ein Mensch, der einem „schlechteren“ Volk angehört, seine nationale

Eigenart aufgeben und Deutscher werden müsse, um Gleichberechtigung zu erlangen.

( ... )

Heute nimmt man – speziell im Ausland – den Messianismus nur noch als Ethnozentrismus und kollektiven Größenwahn wahr; der Begriff als solcher ist dermaßen ausgeweitet worden, daß so unterschiedliche Erscheinungen darunter gefaßt werden wie der die Brüderlichkeit der Völker beschwörende Messianismus der polnischen Romantik und der biologische Nationalismus des deutschen Ostmarkenvereins.

Man muß bei der Analyse des polnischen Messianismus, der in „Polen den Christus der Nationen“ sieht, vor allem darauf  verzichten, ihn als eine exotische Besonderheit aufzufassen. Um die Mitte des 19.Jahrhunderts trifft man fast überall auf Konzeptionen, die den Nationen eine Mission im göttlichen Heilsplan zuschreiben, auf ein Gefühl, als Nation etwas Besonderes zu sein, auf ein (besonders in Frankreich) grassierendes utopisches Denken und auf die Überzeugung, in einer Umbruchszeit zu leben. Józef Ujejski spricht nicht ohne Berechtigung von einer „allgemeinen messianistischen Atmosphäre in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts“ (de Maistre, Proudhon, Herder, Novalis, Schelling, Görres, Moses Heß, Michelet, Mazzini u.a.m.).

Im messianistischen Denken verbindet sich die Vision eines Ideals mit dem Bewußtsein einer Mission, die die Menschen veranlaßt, die Pläne des höchsten Willens zu verwirklichen. Aber nur in Polen wurde dieser Gedanke zu einer Lehre ausgebaut.

 

Jan Garewicz (in: Deutsche und Polen, Piper TB Nr.1538, München 1992, Seite 152 bis 160)

 

 

 

 

 

 

 

DER  SLAWISCHE PAPST

 

Wenn die Gefahren am ärgsten drohen,

dann läutet der allmächtige Gott eine gewaltige Glocke,

dann gebietet er einem neuen, einem slawischen Papst,

seinen Thron zu besteigen.

 

Wie in der Nacht ein Leuchten,

so wird sein Antlitz strahlen,

künftige Geschlechter leitet er

zum Licht der göttlichen Arche.

 

Im All des Herrn zu wirken,

das fordert den Bund zwischen Hoffnung und Kraft,

drum wendet euch eurem Bruder zu,

dem neuen, dem slawischen Papst.

 

Nationen erdrücken die eigenen Waffen.

Seine einzige Waffe ist die Liebe.

Seine einzige Kraft sind die Sakramente,

er, der die Welt in seiner Hand hält.

 

Julius Slowacki 1848

 

 

 

WENN  ICH VATERLAND  DENKE ...

 

 

Vaterland – wenn ich das denke – dann meine ich bis an die Wurzeln mich,

mein Herz sagt es mir, wie eine verborgene Grenze, die in mir verläuft zu den andern,

um alle, bis in die Vergangenheit, die früher war als ein jeder von uns, zu umfassen:

 

Dort komme ich her ... wenn ich Vaterland denke

– um es in mir wie ein Kleinod zu hüten.

Ich frage mich ständig, wie ich es mehren könnte

Und wie den Raum erweitern, welchen es ausfüllt.

 

Stanislaw Andrzej Gruda/Karol Wojtyla 1979

(Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius)

 

 

 

 

 

 

 

„MEIN“  POLEN

 

„Mein“ Polen ist nicht „überall“, wie Karl Dedecius 1974 eine Aufsatzsammlung zur polnischen Literatur der Gegenwart betitelt, sondern verdankt sich konkreten Begegnungen, Eindrücken und Erfahrungen. Unfaßbar war die Vergewaltigung (vgl. zuletzt Jochen Böhler, Der Überfall, Frankfurt 2009; Konrad Schuller, Der letzte Tag von Borów, Freiburg 2009) eines Kulturvolkes seit dem 1.September 1939. „Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends halt“, so hatte Nietzsche den nachfolgenden „Holocaust“ (und damit Auschwitz) vorausgesagt. Irgendwann nach dem Abschied von 68er-Illusionen tauchte die Gestalt des Primas von Polen, Stefan Kardinal Wyszynski, auf. Mehr als ein „Kirchenfürst“, ein klarsichtiger Zeuge und kluger Patriot der Vorbereitung und Durchführung des Millenniums der Taufe von 1966; Polen als Land, in dem (auch marianisch und heilsgeschichtlich) trotz allen Unrechts geglaubt, gebetet und nachgedacht werden konnte. Es bewahrheitet sich das Wort Romano Guardinis: "Wer sich dem Geheimnis des demütigen und gläubigen Volksdaseins öffnet, in welchem sich immerfort das Mysterium des schaffenden und erlösenden Gotteswirkens begibt, dem gehen die Augen für Gott selbst auf" (Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, Mainz/Paderborn 1989, 23).

 

Der 1992 in Bamberg verstorbene Frankfurter Germanist Paul Stöcklein, der vielen Wege zu Eichendorff und zum „späten Goethe“ bahnte, gab eine 1969 erschienene Anthologie „Polnisch leben. Stimmen polnischer Katholiken“ mit Beiträgen aus der Krakauer Zeitschrift „Tygodnik Powszechny“. Natürlich las man als „Ex-Marxist“ Bochenski und Kolakowski (der 1977 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten sollte; verst. 2009), Vaclav Havel (einige Jahre später) und Czeslaw Milosz („Verführtes Denken“), der wie sonst nur Ionesco und Solschenizyn (den, anders als in Frankreich, die deutsche Linke nie recht rezipierte, weshalb sie auf 1989 auch völlig unvorbereitet war) den Abgesang auf die falsche Kulturrevolution von 1968 formulierte*.

 

In theologischen Fachzeitschriften wurden Artikel Lubliner Theologen (Stanislaus Kaminski, Tadeusz Styczen) entdeckt: zum „ecce homo“ und einer Moral, die das Hume´sche „Sein-Sollen-Dilemma“ überwindet, die nicht „autonom“ oder „theonom“, sondern im biblischem Sinne „anthroponom“ und damit „christonom“ sein will. Im September 1978, nach dem Freiburger Katholikentag, bei dem die Vorentscheidung für den Priesterberuf fiel, besuchte der polnische Primas mit Begleitung die Bundesrepublik. Dort fiel zum ersten mal das runde, gesammelte Gesicht auf, das am 16. Oktober 1978 als „slawischer Papst“ weltweit bekannt werden sollte. Danach ein Albtraum über das weitere Schicksal des Primas, der 15 Tage nach dem  Attentat auf Johannes Paul II. (13. Mai 1981) am Fest Christi Himmelfahrt (28. Mai 1981) verstarb. Auf dem Weg in die Exerzitien (mit Prof. Balthasar Fischer in St. Thomas/Kyll) vor der Diakonatsweihe im Autoradio am 13.Dezember 1981 die Nachricht von der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen. Erschüttert hat 1984 das Schicksal des inzwischen seliggesprochenen Solidarnosc-Priesters Jerzy Popieluszko.

 

Im August 1983, dem „Hl. Jahr der Erlösung“, konnte ich erstmals nach Überwindung einiger bürokratischer Hürden mit dem Zug Polen besuchen, zu Gast bei den Familien Blahut/Albrewczynska in Ustron bei Teschen (Cieszyn) in den schlesischen Beskiden. Pilgerwege führten zur Schwarzen Madonna auf dem Jasna Góra in Tschenstochau, wo in meinem Weihejahr (1982) das 600-jährige Gnadenjubiläum gefeiert wurde, zum erschütternden und nie zu vergessendem „Museum Auschwitz“ in Oswiecim, nach Kalwaria Zebrzydowska und schließlich Krakau mit einer kurzen Audienz bei Kardinal Macharski. 1989 und 1990, mitten in den Wendezeiten, folgten weitere Fahrten, u.a. nach Breslau (mit schmerzlichen Erinnerungen an die Vergangenheit des Unrechts der Vertreibungen) und Gnesen, wo inzwischen der Liturgieprofessor Dr.Jerzy Stefanski und der Pfarrdekan von Trzemeszno Bronislaw Michalski stets gut gelaunte Freunde waren, die es nicht versäumten, bei ihren Sommerfahrten nach München das oberfränkische Pfarrhaus aufzusuchen. Im Sommer 1992 ging es mit einer Gruppe von Schönstatt-Priestern via Annaberg, Tschenstochau (mit Übernachtung im Kloster), Niepokalanow und Warschau nach Prositten, dem Geburtsort des Kentenich-Schülers und Weltkriegsopfers Josef Engling (1898-1918) im ehemaligen Ostpreußen. 1991 konnte in Ustron-Hermanice die Vorbereitung des VI. Weltjugendtages in Tschenstochau durch die polnischen Dominikaner aus Posen miterlebt werden  – unter der Leitung des charismatischen Studentenseelsorgers P.Jan Góra OP, der hervorragend französisch spricht und bei der Mystikerin Marthe Robin in Paris war. Als Universitätsseelsorger 1993-1996 in Wien intensivierte sich der Kontakt zum von Pater Góra gegründeten galizisch-österreichischen Zentrum Jamna („dominikanische Republik“) bei Tarnów. Trotz allzu geringer Sprachkenntnisse war der Blick in die Posener Dominikaner- Zeitschrift „w drodze“ immer erbaulich (2008 gab es ein Wiedersehen in Jamna, auf dem Weg nach Lublin). Unvergeßlich bleibt auch die Begegnung im idyllischen Kloster Tyniec an der Weichsel bei Krakau mit P.Leon Knabit OSB, der eine eigene Sendung im polnischen Fernsehen moderierte.

 

Schließlich kam auch eine Verbindung mit Prof. Dr. Tadeusz Styczen von der KUL zustande. Er hielt am 23.Juni 1994 in der Katholischen Hochschulgemeinde Wien, Ebendorferstr. 8, einen gut besuchten Vortrag über die Enzyklika „Veritatis Splendor“, an der er als enger Freund, Berater und Lehrstuhlnachfolger des Papstes selbst mitgearbeitet hat. Es war unmittelbar eine Erfahrung der Einheit von „Herz und Seele“, vor allem dann beim gesungenen Gottesdienst in der Ebendorfer Edith-Stein-Studentenkapelle (des Architekten Ottokar Uhl) mit Msgr. P. Stanislaus Kluz, einem Freund und Mitarbeiter von „Tygodnik Powszechny“ und seinem (1999 verstorbenen) Herausgeber Jerzy Turowicz, sowie beim nächtlichen Gang zum Stephansdom (zuletzt sahen wir uns Ende Januar 1998 bei einem Gastvortrag an der Universität Augsburg, zu dem der Schlesier Prof. Joachim Piegsa eingeladen hatte). Ein Gedenken Reinhold Schneiders 1996 in der Wiener Katholischen Akademie machte auch eine Einladung von Erzbischof Alfons Nossol möglich. Am „Institut für die Wissenschaften vom Menschen“ (IWM) konnte (wie schon am Münchener Katholikentag 1984, als er über Kierkegaard sprach) dem bekannten Krakauer Philosophen Josef Tischner zugehört werden, auch Wladislaw Bartoszewski hielt als damaliger polnischer Botschafter in Österreich öfter Vorträge. In Wien begann über Hans Urs von Balthasar- und Ferdinand Ulrich-Lektüre auch der freundschaftliche Kontakt mit Dr. Krzystof Grzywocz, den späteren Spiritual des Oppelner Priesterseminars. Seit 2001 ist in Oberhaid Dr. Mieczyslaw Mikolajczak,  Professor für Neues Testament an der Universität Posen, ein treuer Helfer und Vertreter im Sommer.

 

Auf immer ist „mein“ Polen aber mit der Person Johannes Pauls II./Karol Wojtylas verbunden – und mit der Landschaft seiner Herkunft. Er hat den polnischen Messianismus sowohl erfüllt als auch überwunden und von jeder nationalen Engführung befreit. Am 5.August 1994, dem römischen Fest Maria Maggiore, durfte in Castel Gandolfo die Frühmesse mit ihm konzelebriert werden. P.Tadeusz Styczen hat es vermittelt für mich und die Freunde aus Ustron. Im kurzen Gespräch ging es um Hermanice, Jamna und Schönstatt: „Das ist nicht wenig!“ war der Kommentar aus päpstlichem Munde - Sto lat!

Vor Antritt der Pfarrstellen im Erzbistum Bamberg im Sommer 1996 gab es einige intensive Tage des Nachdenkens in Auschwitz und Birkenau beim „Zentrum für Dialog und Gebet“ der katholischen Kirche. Es kam zur ersten Begegnung mit dem dort tätigen Aachener Priester Manfred Deselaers, der 1997 im Benno-Verlag Leipzig eine Dissertation über Rudolf Höß, den „Kommandanten von Auschwitz“, veröffentlichte (die für den „Freiburger Rundbrief“ besprochen werden konnte), und zu einer Einladung beim Bischof der neuen Diözese Bielsko-Biala Tadeusz Rakoczy.

 

Polen bleibt ein „Denkanstoß“, nicht nur zur deutsch-polnischen Glanzzeit 1832 in Hambach**, sondern durch seine Geschichte und Kultur, seine Leiden, seine Helden und Heiligen (wie die Märtyrerbischöfe Adalbert und Stanislaus, Hyazinth OP, Königin Hedwig/Jadwiga, Peter Skarga SJ, Andreas Bobola SJ, Stanislaus Kostka SJ, Johannes Kanty, Kardinal Hosius, Jan Sarkander, Albert Chmielowski OFM, Raphael Kalinowski OCarm, Maximilian Kolbe OFM und unzählige Märtyrer totalitärer Gewalt wie auch der Pädagoge Janusz Korczak),  seine Gedenkstätten (Wawel, Warschau,  Westerplatte, Annaberg, Auschwitz, Majdanek, Danziger Werft, aber auch Katyn und Smolensk) und Wallfahrtsorte (von Tschenstochau über Piekary und Kalwaria Zebrzydowska, Lagiewniki, Ludzmierz, Zakopane-Fatima bis nach Kalisch-St.Josef, Gostyn, Lichen, Heilige Linde in den Masuren, Niepokalanow, sowie das Trebnitz der hl.Hedwig von Schlesien, wo Prof. Antonin Kielbasa SDB, sich wissenschaftlich mit dem Wirken der „Heiligen der Versöhnung“ befasst). Es zählt das Wahrheits- und Glaubenszeugnis dieses Volkes in schwierigsten Zeiten, trotz aller traurig/tragischen Vorkommnisse wie in Jedwabne und Kielce (vgl. B. Engelking / H. Hirsch, Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt am Main 2008) oder wie in der noch zu wenig aufgearbeiteten Vertreibung der Deutschen. Solidarität mit Polen ist zumal seit Entstehung von Solidarnosc Solidarität mit dem Menschen. So bleibt die Erfahrung und Begegnung Polen“ als konkrete "Heilsgeschichte" ein gelebter Zugang zu Glaube und Kirche, sowie zur Universalität der Menschenrechte, die auch Rechte von Nationen sind und allein im christlichen Glauben zu ihrer friedlichen Identität und Fülle finden.

 

Karol Wojtyla/Johannes Paul II. möchte im Fragment „Stanislaus“ von 1979 „die Kirche beschreiben – meine Kirche, die zusammen mit mir geboren ist, aber mit mir nicht stirbt – ich sterbe auch nicht mit ihr, die stets über mich hinauswächst – die Kirche: Boden und Gipfel meiner Existenz. Die Kirche – Wurzel, die ich in die Vergangenheit treibe und in die Zukunft zugleich, das Sakrament meines Seins in Gott, welcher Vater ist. Ich möchte die Kirche beschreiben – meine Kirche, die mit meiner Erde verbundene (man sagt: „Was du auf Erden bindest, wird auch im Himmel gebunden sein“) – also ist meine Kirche mit meiner Erde verbunden. Die Erde liegt an der Weichsel, die Zuflüsse steigen im Frühling, wenn der Schnee der Karpaten taut. Die Kirche hat sich mit meiner Erde vereint, damit alles, was sie bindet auf ihr, gebunden sei auch im Himmel“. - Ut sit! So sei es! - Zuletzt durfte es unvergesslich miterlebt werden am 19. August 2002 beim Pilgergottesdienst nahe seinem Geburtsort Wadowice in Kalwaria Zebrzydowska. 

Worte vermögen nicht den Eindruck seines Heimgangs am 2. April 2005 (21.37 Uhr) zu schildern. Möge er im "Haus des Vaters" Fürbitte einlegen für alle, die ihm verbunden waren und sind - in Polen und in allen Völkern, die ihm pastoral und evangelisierend nahe waren:

"Ich bin froh, seid ihr es auch!"                                                                                      

 

Stefan Hartmann (1998; ergänzt 2002; 2009)

 

 

 

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Czeslaw Milosz

 

Sarajevo

 

                                                                                      Mag´s kein Gedicht sein,

                                                                                      wenigstens sage ich, was ich fühle.

 

Jetzt wäre nötig eine Revolution, aber kalt sind, die einmal heiß gewesen waren.

 

Sie gähnen, wenn das vergewaltigte und gemordete Land Europa, an das es geglaubt hat, um Hilfe anruft.

 

Wenn ihre Staatsmänner Niedertracht wählen, meldet sich keine Stimme, es beim Namen zu nennen.

 

Verlogen war die Revolte der Jugend, die aufbrach, die Welt zu erneuern; nun spricht jene Generation das Urteil gegen sich selbst.

 

Indem sie die Rufe der Untergebenen gleichgültig hinnimmt; es seien ja finstre sich gegenseitig mordende Barbaren.

 

Und das Leben der Satten sei mehr wert als das der Hungernden.

 

Jetzt stellt sich heraus, daß ihr Europa von Anfang an eine Einbildung war, sein Glaube und sein Fundament ist das Nichts.

 

Das Nichts, wie Propheten es predigten, kann nur ein Nichts gebären, und sie werden einmal wie das Vieh zum Schlachten getrieben.

 

Zittern mögen sie und im letzten Augenblick merken, daß das Wort Sarajevo ab nun die Schändung ihrer Töchter und die Ausrottung ihrer Söhne bedeutet.

 

Das bereiten sie vor, meinend: „Wenigstens wir sind sicher“, während in ihnen reift, was sie einmal stürzen wird.

 

Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius

 

 

 

 

 

 

** Vgl. ferner „Polenlieder“. Eine Anthologie. Hrsg. v. Gerard Kozielek, Reclam UB Nr. 7910, Stuttgart  1982. Weitere Literatur: Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000