Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland,

wogegen die französische Revolution nur wie

eine harmlose Idylle erscheinen möchte.

Heinrich Heine

 

 

 

Tödlicher Antinomismus

 

Der Holocaust oder die Shoah sind nicht allein erklärbar als Folge von Rassismus und „eliminatorischem Antisemitismus“ (D. J. Goldhagen), sondern erst als Versuch, den jüdisch-christlichen Menschheitskonsens im Namen einer germanisch-arischer Mythologie sich bedienenden atheistischen Herrenideologie auszulöschen. Christian Graf von Krockow sprach treffend vom antisemitischen „Heilsverbrechen“. Ausgelöscht werden sollte auch das Wort des Propheten Micha, mit dem im Jahre 1976 der Baptist Jimmy Carter eindrucksvoll seine Präsidentschaft antrat: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (6,8).

Die mörderische Entwicklung des Nazi-Regimes war, wenn nicht schon nach dem „Röhm-Putsch“ 1934 und den Nürnberger Rassegesetzen, so doch spätestens seit den Novemberpogromen 1938 allgemein absehbar – ohne dass es zu hörbaren und wirksamen Protesten im In- und Ausland gekommen wäre. Bereits zum ersten unrühmlichen „Jahrestag“ der in resignativem Sarkasmus zunächst so genannten „Reichskristallnacht“ schrieb Martin Buber: „Was vor einem Jahr in Deutschland geschah, war nicht ein Ausbruch der Volksleidenschaft, eines volkstümlichen Judenhasses ebenso wenig wie in irgendeiner Handlung, die in jenen sieben Jahren an uns begangen wurde. Es war ein Befehl von oben und wurde genau, mit der Genauigkeit einer zuverlässigen Maschine ausgeführt“ (Sie und Wir, 1939). Nicht bloß antisemitisch als religiös-völkische Minderheit, sondern als „Gottes erste Liebe“ (F. Heer) und als Träger des Anspruchs auf Recht und Gerechtigkeit im Erbe des Sinai-Bundes sind Juden durch die Nazis und ihre Helfer verfolgt und ermordet worden. Auch Gesetz und Gewissen (für Hitler eine „jüdische Erfindung“) mussten gleichsam „getötet“ werden.

 

Hierfür ließe sich der Begriff „Antinomismus“ verwenden, der somit weit mehr bezeichnet als eine innerprotestantische Diskussion um das paulinische Gesetzesverständnis[1]. Antinomismus und Antimoralismus wurden von Armin L. Robinson in seiner Novellensammlung „The Ten Commandments“ (New York 1943) als tödlicher Beweggrund nationalsozialistischen Mordens erkannt. Gunnar Heinsohn hat in seinem Rowohlt-Taschenbuch „Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt“ (Hamburg 1995), in dem er zweiundvierzig „Auschwitz-Theorien“ referiert (davon acht allein von Ernst Nolte), die Auffassung vertreten, dass „der Mord an den Juden aus Fleisch und Blut der Versuch gewesen ist, die Ethik des Judentums zu beseitigen, die ihren überwältigenden Kerngedanken in dem aus Opferverwerfung resultierenden Recht auf Leben hat ... Hitler wollte letzten Endes das gesamte – also nicht nur das europäische – Judentum vernichtet sehen, weil er hoffte, dass mit dem Verschwinden der Juden auch die Thoragesetze des Lebensschutzes sowie der Liebes- und Gerechtigkeitsgebote aus der Welt wären. Die Judenbeseitigung sollte das Recht auf Töten wiederherstellen. Auschwitz war ein Völkermord für die Wiederherstellung des Rechtes auf Völkermord“ (S. 18).

 

Wie war eine solche Entwicklung im Abendland und speziell in Deutschland möglich? Welche Traditionen haben den mörderischen Antinomismus aufkommen lassen? Bei der Suche nach Ursachen fällt der Blick auf den frühchristlichen Häretiker Marcion, das „deutsche“ Ereignis der Reformation[2] und nicht zuletzt auf den mit der Aufklärung einsetzenden öffentlichen Atheismus, der sich zunächst noch als „Deismus“ gab.

Marcion, vom hl. Irenäus „des Teufels Sprachrohr“ genannt (vgl. das Kapitel „Die aufgedeckte Verschwörung“ in Walter Niggs „Buch der Ketzer“), gilt zurecht als Urheber des antijüdischen Affektes im Christentum. Er wollte das „reine Evangelium“ verkünden und allen alttestamentlich-jüdischen „Ballast“ abwerfen. Schon Tertullian stellte scharfsichtig fest: „Die Trennung von Gesetz und Evangelium ist die Eigentümlichkeit und das Hauptwerk des Marcion.“ Der Agnostiker und Basler Nietzsche-Freund Franz Overbeck hat das Bonmot geprägt: „Niemand hat Paulus je verstanden, und der Einzige, der ihn verstand, Marcion, hat ihn missverstanden.“ Die zweifellos antinomistische Polemik des Galaterbriefes muss – so betont etwa der Neutestamentler Joachim Gnilka – im Licht des Römerbriefes gesehen und ergänzt werden. Paulus geht es nicht um eine Kritik der Sinai-Gebotes des Bundesvolkes, sondern um das Gesetz im Sinne der möglichen „Gesetzeswerke“ wie Speisevorschriften und Beschneidung[3]. Den Satz des Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) in Nr. 1975 („Gemäß der Schrift ist das Gesetz eine väterliche Unterweisung Gottes, die dem Menschen die Wege vorschreibt, die zur verheißenen Seligkeit führen, und die Wege zum Bösen verbietet.“) hätte er gewiss mit unterschrieben. Nicht so Marcion. Eher zögerlich wäre auch die Zustimmung Martin Luthers, für den – vielleicht aufgrund seiner negativen Vatererfahrung – in seiner ängstlichen Sorge um einen „gnädigen Gott“ das „Ich im Glauben“ (P. Hacker) den Blick auf alles Objektive und Vorgegebene verstellt.    

Ein wirkliches Verständnis der Philosophie und Theologie des hl. Thomas und seiner Gesetzeslehre ging Luther[4], der sich selbst als „Schüler Ockhams“ sah, ab. Sein Affekt gegen das Gesetz hat – zusammen mit antisemitischen Äußerungen seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1534)[5] – später bei „Deutschen Christen“ Hemmungen beseitigt, die das Morden vielleicht hätten aufhalten können. Mit wahrem Entsetzen liest man heute, wie der sich liberal auflösende Protestantismus eines Adolf von Harnack (in der Untersuchung über Marcion 1920) die These aufstellen konnte: „Das Alte Testament seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“ Das hier entstandene Vakuum konnte auch der theologische Dezisionismus eines Karl Barth nicht mehr füllen (dazu hätte es einer „analogia entis“ bedurft), sodass Martin Buber lapidar dazu bemerkte: „Harnack starb 1930; drei Jahre danach war sein Gedanke, der Gedanke Marcions, in Handlung umgesetzt, nicht mit Mitteln des Geistes, sondern mit denen der Gewalt und des Terrors“ (Reden über das Judentum, Köln 1952).

 

Während die mit einem universalen Kirchenrecht versehene Gemeinschaft der Catholica vor antinomistischen Tendenzen trotz einiger zeitgeistiger Schwächeanzeichen (etwa bei den Dogmatikern K. Adam[6], M. Schmaus und den Braunsberger Professoren H. Barion und K. Eschweiler, die Mitglieder der NS-Partei waren) oder schillernder Einzelgänger wie Carl Schmitt (Heidegger war 1933 nicht mehr katholisch) weitgehend verschont blieb und der Antinomismus der orthodox-östlichen Kirchentradition (besonders auch bei F. Dostojewskij) ein eigenes Thema bildet, bleibt die diesbezügliche Tragik des Protestantismus[7] bestehen: Von Luthers „simul iustus et peccator"[8] und „fröhlichem Wechsel“ (Th. Beer) zwischen Segen und Fluch, Gesetz und Evangelium, Sünde und Rechtfertigung führt der geistige Weg zum modernen Dualismus von Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Sollen und Sein. Aus dem „Credo“ wird das „Cogito“ (Descartes), eine „Welt als Wille und Vorstellung“ (Schopenhauer) und im deutschen Idealismus das autonom-transzendentale „Ich“ Fichtes, der mit einer „Kritik aller Offenbarung“ begann und mit seinen Reden für die „deutsche Nation“ so wichtig wurde wie die Verabsolutierung des preußischen Staates durch Hegel. Hans Urs von Balthasar sprach in seiner theologischen Ästhetik diesbezüglich von der „Selbstherrlichkeit des Geistes“. Die jüdische Essayistin Margarete Susman sieht zwischen jüdischem und deutschem Geist einen Abgrund klaffen: „Der deutsche Geist hatte von Luther an eine Wendung vom Außen ins Innen erfahren, die dann, seit Kant, durch den Idealismus und die Romantik hindurch, sich mit der Wendung zum Irrationalen mischte und schließlich in der zweiten Romantik immer steiler und verhängnisvoller auf ihren Gipfel stieg.“[9] Die gleiche Entwicklung beschrieb schon 1921 Franz Rosenzweig in seinem klärenden und zu wenig beachteten „Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand“[10].

Trotz aller „offenen Flanken“ wäre es jedoch ungerecht, den gläubigen Christen Martin Luther pauschal zum Sündenbock des deutschen Geschichtsganges zu machen. Überzogen und falsch ist auch die These des Historikers Gerhard Czermak, „ohne das Christentum hätte es keinen Holocaust gegeben“[11], ist doch das schreckliche Geschehen gerade die Folge eines dämonischen Missbrauchs des Christentums. Schon 1938 waren Sätze zu hören, für die es noch lebende Ohrenzeugen gibt: „Wir wollen weder ruhen noch rasten, bis der letzte Pfarre an den Gedärmen des letzten Juden aufgehängt ist“; „Jetzt haben wir die Juden rausgeschmissen, nun kommen die Hostienfresser dran“. Sigmund Freud schrieb in „Der Mann Moses“ kurz vor seinem Tod in London: „Judenhass ist im Grunde Christenhass und man braucht sich nicht zu wundern, dass in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet.“ Jean-Marie Lustiger, der 2006 verstorbene Pariser Erzbischof und Kardinal, dessen Eltern in Auschwitz umgebracht wurden, sieht daher „den Antisemitismus Hitlers aus dem Antisemitismus der Aufklärung, und nicht etwa aus einem christlichen Antisemitismus“[12] hervorgehen. In ähnliche Richtung gingen die Thesen von M. Horkheimer und Th. Adorno in ihrem bekannten Buch „Dialektik der Aufklärung“ (Amsterdam 1947), wenn sie auf den „rationalen Vollzug“ des Massenmordes hinwiesen.

 

Im schriftstellerischen Werk Franz Kafkas scheint sich ein innerjüdischer Antinomismus Ausdruck zu verschaffen: die vielinterpretierte Parabel „Vor dem Gesetz“ als Kernstück des Romans „Der Prozess“. Doch stellt Kafka nirgends das Tötungsverbot vom Sinai infrage, sondern die Funktion des Gesetzes als anonymer „Ankläger“, eine Problematik, die ähnlich von Paulus und Luther empfunden wurde, für die Freud die Theorie des „Über-Ich“ entwickelt hat. Bezüglich des klaren biblischen Gebotes „Du sollst nicht töten“, das in kirchlich-christlicher Tradition lange in letzter Konsequenz missachtet wurde (wofür die katholische Kirche im Hl. Jahr 2000 ein Schuldbekenntnis[13] ablegte), kann es aber auch vor dem aktuellen Hintergrund von Abtreibungs- und Euthanasie-Tötung keinerlei Ausflüchte in „Epikie“ oder „Probabilismus“ geben, wie ihn manche Bioethiker und liberale Moraltheologen anbieten. Hier hat der große Papst Johannes Paul II., der als Pole in unmittelbarer Nähe zu Auschwitz lebte, in seinem Kampf gegen jede „Kultur des Todes“ und mit den innerlich zusammengehörigen Enzykliken „Veritatis splendor“ (1993) und „Evangelium vitae“ (1995) für unmissverständliche Klarheit gesorgt.

Auch Deutungen des Holocaust mit kabbalistisch-gnostischen Untertönen, wie sie Hans Jonas[14] und manchmal Elie Wiesel versucht haben, sind nicht ungefährlich, da – wie schon bei Joachim von Fiore und seiner von Henri de Lubac dargestellten Nachwirkung – der Primat der Bundesethik vergessen werden könnte. Zu Auschwitz, zur Shoah, kann es keine wie immer geartete und das Geschehen dann doch relativierende „Gnosis“ geben. Da alle Verbrechen von Menschen nach christlichem Glauben am Kreuz von Golgotha und im Höllenabstieg von Gott mitgelitten wurden, braucht ein eigenes Kreuz in Auschwitz nicht „aufgerichtet“ werden. Das ist keine Vereinnahmung oder latenter Triumphalismus, sondern der gläubige Blick auf die erschreckende Wirklichkeit, die auch vom Ungläubigen als kategorischer Imperativ des „Du darfst nicht töten!“ am „Antlitz des Anderen“ (E. Levinas) wahrgenommen werden kann.

Hier war in den 1990er Jahren der Protest der jüdischen Gemeinschaft (besonders auch Elie Wiesels), gegen Kreuze und ein Sühnekloster auf dem Gelände des Konzentrationslagers, berechtigt und verständlich. Der seit der „Wende“ von 1989/90 in Auschwitz als Spiritual wirkende Aachener Priester Manfred Deselaers stellte 1998 anlässlich der Heiligsprechung Edith Steins in einem Vortrag rhetorisch die Fragen: „Wenn jetzt für die Christenheit Maximilian Kolbe und Edith Stein die Opfer von Auschwitz repräsentieren, wird dann nicht der Ort der Niederlage des Christentums uminterpretiert in einen Ort des Sieges des Christentums? Verschwinden dadurch nicht aus dieser Erinnerung die Juden als Juden, als Nicht-Christen schon wieder aus Europa?“ Und Deselaers, der eine philosophisch-theologische Dissertation über den KZ-Kommandanten Rudolf Höß veröffentlicht hat[15], fügt hinzu: „Es geht also in Bezug auf Auschwitz darum, die Juden als Juden ernst zu nehmen, so, wie sie sich selber sehen.“

Aber auch das Zeichen des Kreuzes darf nicht „zivilreligiös“ oder spekulativ-platonisierend[16] entleert werden, ob von evangelischen oder katholischen Christen, sondern muss je-konkret in seiner „Torheit“ und seinem „Ärgernis“ (1 Kor 1, 23) wahrgenommen, ausgehalten und nachfolgend mitgetragen werden. An ihm ist aller „Antinomismus“ an sein Ende geraten, offenbart sich mörderische Konsequenz der Nicht-Liebe genauso wie die Weite der unendlichen Liebe des in Christus aufscheinenden dreieinigen Gottes, die aus allen Tiefen in die Höhe der Auferstehung und Verherrlichung zieht.  



[1] Vgl. O. H. Pesch, Art. Antinomismus, in: LThK³ 1, Freiburg i. Br. 1993, 762-766.

[2] Vgl. nun Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M. Leipzig 2009.

[3] Vgl. exegetisch K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament (QD 108), Freiburg i. Br. 1989; M. Limbeck, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament, Darmstadt 1997.

[4] Zu seiner Theologie vgl. die unterschiedlichen Arbeiten von Th. Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit. Grundzüge der Theologie Martin Luthers, Einsiedeln ²1980; O. Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen ³2007; H.-M. Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009. Die Nähe von Luther und Thomas zu betonen ist Anliegen von O. H. Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Ostfildern 2008.

[5] Vgl. P. von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002.

[6] Vgl. die traurig stimmende Untersuchung von L. Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe, Darmstadt 2001.

[7] Vgl. etwa R. P. Erickson, Theologians under Hitler. Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch, New Haven & London (Yale University) 1985; T. Hetzer, „Deutsche Stunde“. Volksgemeinschaft und Antisemitismus in der politischen Theologie bei Paul Althaus, München 2009.

[8] Dazu der Sammelband von Th. Schneider, G. Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen (Dialog der Kirchen Bd. 11), Freiburg i. Br./ Göttingen 2001.

[9] Zitiert nach C. Schulte (Hg.), Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, Stuttgart (Reclam UB 8899), 144. Vgl. auch das Eingangszitat von H. Heine und seinen Kontext.

[10] Neuausgabe Frankfurt a. M. (Jüdischer Verlag) 1992.

[11] Christen gegen Juden. Die Geschichte einer Verfolgung, Frankfurt a. M. 1991, 228. Theologischer und auch historisch überzeugender wird argumentiert bei P. Petzel, Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen. Eine erkenntnistheologische Studie. Mit einem Vorwort von Hans Waldenfels, Mainz 1994; G. Taxacher. Nach Auschwitz Gott in der Geschichte denken, Gütersloh 1998; J. Manemann, J. B. Metz (Hg.), Christologie nach Auschwitz. Stellungnahmen im Anschluss an Thesen von Tiemo Rainer Peters, Münster 1998; A. Laun (Hg.), Unterwegs nach Jerusalem. Die Kirche auf der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln, Eichstätt 2004; H. Hoping, J.-H. Tück (Hg.), Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah (QD 214), Freiburg i. Br. 2005. 

[12] Gotteswahl. Jüdische Herkunft, Übertritt zum Katholizismus, Zukunft von Kirche und Gesellschaft. Gespräche mit Jean-Louis Missika und Dominique Wolton, München 1992, 86. Zur Vertiefung vgl. Ders., Die Verheißung. Vom Alten zum Neuen Bund, Augsburg 2003.

[13] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Gerhard Ludwig Müller, Freiburg i. Br. 2000.

[14] Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (Suhrkamp TB 1516), Frankfurt a. M. 1987. Vgl. T. Schieder, Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas, Paderborn ²1998.

[15] „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Leipzig 1997.

[16] Dazu eine prophetische Frage des österreichischen Dialogikers und Volksschullehrers Ferdinand Ebner (1882-1931) aus dem Jahr 1919: „Ging die abendländische Kultur an etwas anderem zugrunde – und sie ist bereits zugrunde gegangen! – als an der Stilisierung des Kreuzes, an ihrem platonischen Missverständnis des Christentums? Täusche man sich nicht: das und nichts anderes gebar den Unglauben und die Gottlosigkeit unserer Zeit. Ob nun jetzt die Amerikanisierung des Lebens oder der Bolschewismus die letzten Aufräumungsarbeiten besorgt, ... das ist schließlich gleichgültig“ (Das Wort und die geistigen Realitäten, Frankfurt a. M. 1980, 260).

 

 

 

Buchbesprechungen:

 

 

Manfred Deselaers, Leszek Łysień, Jan Novak (Hrsg.), Gott und Auschwitz. Über Edith Stein, den Besuch von Papst Benedikt XVI. und Gott in den Düsternissen der Geschichte. Mit einem Vorwort von Walter Kardinal Kasper. Übersetzt von Elżbieta Wawrzyniak-Buschermöhle, UNUM Verlag / Zentrum für Dialog und Gebet / Solidaritätsaktion Renovabis, Kraków-Oświęcim-Freising 2010. ISBN 978-83-7643-042-3

 

Im Jahr 2006 gab es im seit 1992 in Oświęcim [Auschwitz] bestehendem „Zentrum für Dialog und Gebet“, das mit Unterstützung der Deutschen Bischofskonferenz im Auftrag des damaligen Erzbischofs von Krakau neben dem Karmelitinnenkloster außerhalb des Lagers errichtet wurde und an dem der Aachener Priester Manfred Deselaers als Geistlicher/Spiritual arbeitet (www.cdim.pl), drei bedeutsame Ereignisse: im Mai ein wissenschaftliches Seminar über Edith Stein und den Besuch von Papst Benedikt XVI. (28. Mai), im November eine intensive Forschungstagung zum Thema „Die Anwesenheit Gottes in den Düsternissen der Geschichte“. Die dabei gehaltenen Referate überwiegend polnischer Wissenschaftler liegen nun zusammen mit der Ansprache von Papst Benedikt XVI. im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in einer vorzüglichen Übersetzung als Sammelband vor und können in Einzelexemplaren bei der Solidaritätsaktion „Renovabis“ (Freising) kostenfrei bezogen werden.

Wer meint, es gäbe schon genug an Literatur zur Gottesproblematik angesichts des Holocaust, täuscht sich und wird von den profunden Texten aus Polen eines Besseren belehrt. Hohe Dialog- und Reflexionskultur, enge existentielle Verbindung – sei sie biografisch, verwandtschaftlich oder örtlich – zum Geschehen in Auschwitz und ein gemeinsames Ringen um eine nach vorne blickende Sicht, in der „die Liebe stärker ist als der Tod“, zeichnet den Sammelband aus. Er will „die Frucht eines gemeinsamen Lauschens auf die Stimme von Auschwitz“ (15) sein.   

Der erste, sich Edith Stein widmende Teil des Buches behandelt mehrere Aspekte ihrer Person und ihres Wirkens, auch die Problematik der nicht unumstrittenen Heiligsprechung und Ernennung zur Con-Patronin Europas. Professor Wacław Długoborski, ehemaliger Häftling des Lagers Auschwitz-Birkenau und langjähriger Leiter der historischen Abteilung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, stellte die auch in der deutschen Edith-Stein-Forschung wenig bekannte Periode des politischen Engagements der jungen Studentin aus Breslau in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg dar (19-38). Interessant ist dabei vor allem ihre hier erstmals breiter geschilderte aktive Mitarbeit in der DDP (Deutsche Demokratische Partei). Anna Grzegorczyk, Direktorin des Edith-Stein-Forschungszentrums an der Universität Poznań [Posen], analysiert den Einfluss des Denkens Edith Steins, besonders der „Einfühlung als universaler Erkenntnismethode“ (50), auf die zeitgenössische Philosophie (39-55). Marian Zawada OCD, Direktor des Edith-Stein-Zentrums für Geistliche Kultur „Communio Crucis“ in Kraków [Krakau], schildert „Die Bedeutung Edith Steins für die zeitgenössische Spiritualität“ (57-70), vor allem die Verbindung von theologischer Anthropologie und Kreuzestheologie. Stanisław Krajewski, Co-Vorsitzender des Polnischen Rates der Christen und Juden und langjähriges Mitglied des Internationalen Auschwitz-Rates, legt den „Fall Edith Stein“ aus jüdischer Perspektive dar (71-80). Er sieht in ihrer Heiligsprechung die Gefahr einer kirchlichen Vereinnahmung des Holocaust, da sie – wenn auch ohne bewusste Absicht – „zur ausgezeichneten Repräsentantin der Opfer gemacht wurde“ (77). Trotzdem erkennt Krajewski in der ermordeten Konvertitin und Karmelitin bei Beachtung der Unterschiede eine „Herausforderung für den Dialog“ (78). Die gleichsam katholische Antwort darauf gibt der in einer jüdischen Familie geborene und von Polen vor dem Tod gerettete Priester Romuald Jakub Weksler-Waszkinel (Katholische Universität Lublin) mit dem Aufsatz „Edith Stein als Herausforderung“ (81-95). Er würdigt dabei den Beitrag des II. Vatikanums, verschiedener Dialog-Initiativen und des polnischen Papstes Johannes Paul II. hin zu einer neuen Kirche der Achtung, der Toleranz und Gastfreundschaft, „befreit von den alten Fehlern des Antijudaismus und Antisemitismus“ (86). Derselbe Johannes Paul II. erhob 1999 (zusammen mit Katherina von Siena und Birgitta von Schweden) Edith Stein zur Patronin Europas, das auch an ihrer Person scheiterte und doch in ihr eine „Brücke“ zwischen jüdischen Wurzeln und der Zugehörigkeit zu Christus vor Augen hat. Dann geht es nicht mehr um Konversion oder „Bekehrung“, sondern die gemeinsame Verehrung des einen Gottes, in der man keinen kirchlich-klerikalen Zwang mehr ausübt, sondern in der Begegnung untereinander ein freies Angebot der Begegnung auch mit Christus macht („extra Christum nulla ecclesia“, 95). Manfred Deselaers, seit 1990 in Ošwięcim [Auschwitz] unter den polnischen Katholiken in der Pfarrei Mariä Himmelfahrt als Seelsorger tätig und 1996 in Kraków [Krakau] mit der Arbeit „Gott und das Böse im Hinblick auf die Biografie und die Selbstzeugnisse von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz“ zum Dr. theol. promoviert, behandelt das aus heutiger Sicht besonders diffizile Thema „Edith Stein und die Verantwortung der Kirche“ (97-106), u.a. mit einer Analyse ihres im April 1933 an Papst Pius XI. gerichteten leider vergeblichen Briefes (dessen Text auch wiedergegeben wird). Dabei wird auch die Hilflosigkeit der deutschen Bischöfe angesprochen. So erinnert Edith Stein „an Schuld, nicht nur der direkten Verbrecher, sondern auch in der katholischen Kirche“ (104).  Für sie realisierte sich die „Kreuzeswissenschaft“ ganz konkret. „Wir wissen nicht, was Edith Stein in Auschwitz gedacht hat. Wir wissen nicht einmal, ob ihr Glaube hier nicht zerbrochen ist, wie bei Anderen – davon gibt es keine Spur mehr. Aber alle Zeugnisse sprechen davon, dass sie ihr Schicksal klar sah und im Glauben angenommen hat“ (102). Deselaers, der das „Zentrum für Dialog und Gebet“ entscheidend geprägt hat, bekam übrigens im Jahr 2000 durch den polnischen „Rat der Christen und Juden“ den Ehrentitel „Mensch der Versöhnung“ und ist seit Mai 2006 Mitglied des Internationalen Auschwitz-Rates.

 

Teil II des Sammelbandes dokumentiert und kommentiert den Besuch von Papst Benedikt XVI. am 28. Mai 2006 im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und im „Zentrum für Dialog und Gebet“. Deselaers vergleicht dabei den Besuch des deutschen Papstes Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. im Jahr 2006 mit dem ersten Besuch eines Papstes in Auschwitz  durch den Polen Karol Wojtyła / Johannes Paul II. am 7. Juni 1979. Dieser sagte damals den von seinem Nachfolger aufgegriffenen Satz: „Als Papst konnte ich unmöglich nicht hierher kommen“ (121). Deselaers referiert sodann die polnische zeitgeschichtliche Dimension des ersten Besuches und die Verknüpfung beider Besuche mit der deutsch-polnischen und christlich-jüdischen Aussöhnung. Er schildert die Konflikte um das Karmelitinnenkloster und die Aufstellung von Kreuzen in den 1980er- und 1990er-Jahren – Konflikte, die durch das beherzte Eingreifen von Papst Johannes Paul II. überwunden werden konnten. Für Deselaers war „der wichtigste Aspekt des Besuches von Papst Benedikt XVI. in Auschwitz sein positives Schweigen“ (131), mit dem er seine Ansprache begann: „An diesem Ort des Grauens, einer Anhäufung von Verbrechen gegen Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte, zu sprechen, ist fast unmöglich – ist besonders schwer und bedrückend für einen Christen, einen Papst, der aus Deutschland kommt. An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden?“ (115; 132f). Damit fühlt sich Deselaers an die Theologie von Emmanuel Lévinas (1906-1995) erinnert, „dass der Schrei nach Hilfe das erste Gebet ist, und dass es sein Sinn ist, in uns die Liebe zu erwecken“ (133), und stellt im Blick auf das lebende jüdische Volk fest, dass die Tradition des christlichen Anti-Judaismus dazu beitrug, „den Weg nach Auschwitz vorzubereiten“ (136). Daher vermisst er bei Benedikt XVI. „in diesem Zusammenhang ein ausdrückliches päpstliches Wort über die Schuld der Christen“ (136).

 

In Teil III mit den Akten der November-Tagung 2006 geht es um das Großthema „Gott in den Finsternissen der Geschichte“, das Referenten aus verschiedenen polnischen Hochschulen und Universitäten zu einem Seminar am „Zentrum für Dialog und Gebet“ zusammenführte. Unter Zuhilfenahme und Anknüpfung an das Denken von Thomas von Aquin, Simone Weil, Emmanuel Lévinas, Hannah Arendt, Hans Jonas, Abraham Joshua Heschel, Alfred N. Whitehead, Józef Tischner, Jürgen Moltmann und anderen versuchten die anwesenden polnischen Philosophen und Theologen, im Bewusstsein der Unvollkommenheit der Sprache um die Fragen des Bösen und der Theodizee aus verschiedenen Perspektiven zu ringen. Titel und Verfasser der sehr tief schürfenden Untersuchungen seien hier erwähnt:  „Die fordernde Anwesenheit Gottes“ (Joanna Barcik, 141-149); „Die traditionelle Theodizee angesichts von Auschwitz – Thomas von Aquin und Hannah Arendt“ (Grzegorz Chrzanowski OP, 151-164); „Gott und das Böse. Anthropologisch-theologische Reflexion“ (Manfred Deselaers, 165-185); „Von Gott oder vom Menschen sprechen ...“ (Zbyszek Dymarski, 187-203); „Hat Gott in Auschwitz gelitten? Wo war Gott in jenen Tagen? Warum schwieg er?“ (Jan Andrzej Kłoczowski OP, 205-215); „Im Halbdunkel der Zweideutigkeit. Die flackernde Weise der Anwesenheit Gottes in den von Menschen geschaffenen Höllen“ (Leszek Łysień, 217-234); „Die Düsternisse der Anwesenheit Gottes“ (Piotr Sikora, 235-245); „Verantwortung Gottes – Verantwortung des Menschen“ (Karol Tarnowski, 247-258); „Werdet ihr wirklich wie Gott sein? Die Suche nach dem Sinn des Leidens als Kampf des Menschen mit Gott“ (Krzysztof Wieczorek, 259-270). Abschließend wird der Text einer Podiumsdiskussion zum Thema „In welcher Sprache vom Bösen sprechen?“ wiedergegeben (271-287). Viele sehr persönliche Erfahrungen fließen hier in die Diskussionen ein. Leitend war auch die Anfrage des sensiblen Johann Baptist Metz: „Die theologische Frage nach Auschwitz heißt ja nicht nur: Wo war Gott in Auschwitz? Sie heißt auch: Wo war der Mensch in Auschwitz?“ (14).  Im Anhang werden die Autoren kurz porträtiert und einige farbige Bilder vom Besuch Papst Benedikts und den Seminarzusammenkünften präsentiert – besonders ergreifend das Aufscheinen eines Regenbogens während des päpstlichen Gebets an den Gedenktafeln der Völker.

Es ist sehr zu begrüßen, dass der seit 2008 schon in polnischer und englischer Sprache vorliegende Sammelband zu den Ereignissen des Jahres 2006 im „Zentrum für Dialog und Gebet“ nun auch deutschsprachigen Lesern zur Verfügung steht und gleichsam unter dem Patronat der Heiligen Edith Stein zu einem spirituellen und intellektuellen Umgang mit dem Holocaust Hilfen gibt.

 

 

 

 

 

 

 

John Weiss: Der lange Weg zum Holocaust

Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. 544 Seiten.

Daniel Goldhagens Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“ (vgl. FrRu 4[1997] 2-6) läßt zahlreiche Fragen offen, gerade weil er alles zu erklären suchte. Der Historiker John Weiss, Sohn eines österreichischen katholischen Einwanderers, beantwortet viele dieser Fragen über den spezifisch deutschen und österreichischen Antisemitismus, der den Weg zum Holocaust geebnet hat.

Anders als Goldhagen begnügt sich Weiss nicht mit monokausalen Erklärungen und einem Kollektivschuld-Vorwurf, sondern geht äußerst differenziert den Ursprüngen des christlichen Judenhasses (der zunächst keineswegs mörderisch war) nach und erklärt, wie die christlichen Kirchen in Deutschland und Österreich, die idealistische Philosophie (Fichte!, 1762-1814) und der deutsche Nationalismus den Nährboden für die „Ideology of Death“ (so der Titel der amerikanischen Originalausgabe) abgeben konnten. Die Analyse ist schonungslos und überzeugend in ihrer Konsequenz. Während die Bilderwelt des modernen Antisemitismus — der Jude als Gottesmörder und Parasit — im Mittelalter heranreifte, sieht Weiss in Martin Luther den „Urheber jener Mischung aus deutschem Konservatismus, Nationalismus und Antisemitismus, die für die Juden in Mittel- und Osteuropa so tödliche Folgen haben sollte“ (39). Ob der Vorwurf „Luther war schlicht Rassist“ (45) zutrifft, sei dahingestellt, aber es fällt Weiss auf, daß protestantische Widerständler allesamt eher der kalvinistischen Tradition angehörten. Die mörderische Konsequenz liegt nicht erst in der oft überschätzten Biographie Hitlers und seiner „Helfer“, sondern läßt sich in der Kultur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts ablesen. Namen wie Friedrich Carl von Savigny, Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn, Gustav Freytag, Wilhelm Raabe und natürlich Heinrich von Treitschke und seine „Deutsche Geschichte“ in fünf Bänden (1879-1894) stehen für antisemitische Traditionen in höchst gebildeten Kreisen und werden von Weiss ebenso kenntnisreich behandelt wie die Demagogen Adolf Stoecker (der kaiserliche Hofprediger in Berlin!, vgl. FrRu 5[1998]241-245), der „hessische Bauernkönig“ Otto Böckel und Wilhelm Marr, der 1879 die „Antisemitenliga“ gründet und dessen Rassismus bereits „die Möglichkeit zum Völkermord“ (142) enthält. Besonders untersucht wird auch der katholische Antisemitismus in der Habsburger Monarchie, der zu den bekannten Wiener Figuren Karl Lueger und Georg Ritter von Schönerer führt und deren klerikale Ursprünge (P. Heinrich Abel SJ) oft zuwenig bewußt sind. Der Versuch einer Intervention des Prager Kardinals Friedrich Schönborn bei Papst Leo XIII. gegen Luegers Christlichsoziale Partei, die „niedrige Begierden“ entzünde, war erfolglos. Wie sehr auch nach dem Ersten Weltkrieg ein auffällig österreichischer und auch bayrischer Antisemitismus virulent blieb, zeigte sich u. a. am Anteil der aktiven Nazis im Vergleich zum übrigen „Reich“ (238) und der Gewalttätigkeit von Studenten (308). Schließlich schildert Weiss noch den Höhepunkt des Judenmordes im Zweiten Weltkrieg (423), die vielfache Komplizenschaft (445), den Opportunismus auch der Widerständler des 20. Juli 1944 (470 ff.) sowie kirchliche Schattengestalten wie die Bischöfe Wilhelm Berning und Alois Hudal. Aber auch der „Gefangene des Führers“, Martin Niemöller, „tat für die Juden nichts“ (306) und Papst Pius XII. sei „alles in allem ein Unglück für sein Amt und für den Katholizismus“ (463). Zu letzterem gibt es nach Studium der Archive inzwischen differenziertere Urteile.

Das Werk ist eine wertvolle Ergänzung und kompetente Korrektur von Goldhagens einseitigen Thesen. Der große Holocaust-Forscher Raul Hilberg urteilte richtig, wenn er sagte: „Für viele Leser wird dieses Buch eine ganze Bibliothek ersetzen können.“

Stefan Hartmann

(FrRu NF 6/1999, Seite 223)

 

Bartoszewski, Wladyslaw

Es lohnt sich, anständig zu sein. Meine Erinnerungen. Mit einem Nachwort hrsg. von Reinhold Lehmann. Herder Spektrum 4449, Freiburg 1995. 146 Seiten.

Die erstmals 1983 unter dem Titel „Herbst der Hoffnungen“ erschienenen Erinnerungen des Warschauer Historikers und Publizisten Wladyslaw Bartoszewski sind mittlerweile zu einer Art Klassiker der Menschenrechtsliteratur geworden. Reinhold Lehmann, ein Pionier im deutsch-polnischen Versöhnungswerk, hat sie nun, zusammen mit der bedeutenden Rede Bartoszewskis zum Gedächtnis an den 8. Mai 1945 vor dem Deutschen Bundestag (28. April 1995) als damaliger polnischer Außenminister, neu herausgegeben.

Beginnend mit seiner Verhaftung am 13. Dezember 1981 aufgrund des „Kriegsrechtes“ in Polen schildert Bartoszewski lebhaft, engagiert und manchmal humorvoll-ironisch die Stationen seines Lebens. Am 19. September 1940 (ein Jahr nach seinem Abitur) wird er in das zunächst für die Ausschaltung und Vernichtung der polnischen Oberschicht errichtete Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert, als Häftling Nr. 4427. Glückliche Umstände bewirken nach sieben schrecklichen Monaten die Entlassung. Es folgt die Arbeit im Untergrund in katholischen Widerstandsgruppen und der polnischen Heimatarmee. Das „jüdische Kapitel“ im Leben Bartoszewskis beginnt nach den unbefangenen Erfahrungen in der Jugend akut zu werden angesichts der nationalsozialistischen Mordaktionen. Er zitiert die bekannte katholische Schriftstellerin Zofia Kossak, die 1942 auf einem kleinen Flugblatt schrieb:

„Angesichts der Verbrechen darf man nicht passiv bleiben. Wer angesichts des Mordes schweigt, wird zum Komplizen der Mörder. Wer nicht protestiert, stimmt zu. Das Blut Wehrloser schreit zum Himmel nach Rache. Wer nicht mit uns diesen Protest unterstützt, der ist kein Katholik ...“ (62).

Angesichts der Tatsache, daß Polen ein besetztes Land war, hält Bartoszewski, der zum jüdisch-polnischen Verhältnis in der Zeit der „Endlösung“ das Buch „Uns eint vergossenes Blut“ verfaßte (Fischer, Frankfurt 1987), pauschale Vorwürfe gegen Polen wegen mangelnder Hilfeleistung oder Antisemitismus für ungerecht. Für den Warschauer Gettoaufstand 1943 war er Zeuge und Chronist, was ihm die Achtung der jüdischen Welt einbrachte. Der tragische Verlauf des Aufstandes vom August 1944, an dem Bartoszewski selbst aktiv beteiligt war, muß jeden deutschen Leser erschüttern und beschämen. Was den jüngsten Streit um Symbole in Auschwitz angeht, so sei auf folgende Bemerkung hingewiesen: „Das Kreuz, an dem Jesus starb, ist für uns Christen das Symbol. Für Kolbe war es die tödliche Phenolspritze, für Korczak das tödliche Gas in der Gaskammer von Treblinka“ (60).

Nach dem Krieg kann der noch junge Bartoszewski in verschiedenen Kornmissionen für die Untersuchung der Nazi-Verbrechen mitarbeiten, gerät aber nach der Zwangs-Stalinisierung des Landes unter Spionageverdacht. November 1946 bis April 1948 und Dezember 1949 bis August 1954 verbringt er wieder in Gefängnissen und erleidet so am eigenen Leib die zweite Tragödie seines Landes in diesem Jahrhundert. Von 1939 bis 1989 stand Polen unter Gewaltregimen, während die Kriegsverlierer sich schon seit 1948 mit amerikanischer Aufbauhilfe politischer Freiheit erfreuen und dem „Wirtschaftswunder“ widmen konnten. Das alles wird von Bartoszewski, der seit den sechziger und siebziger Jahren viele Kontakte zu kirchlichen Kreisen in der Bundesrepublik anknüpft, ungeschmälert ausgedrückt. In seiner berühmten Rede vor dem Bundestag erwähnt er auch, daß erst die Worte Roman Herzogs bei den Feierlichkeiten zum 50. Gedenken des zweiten Warschauer Aufstandes am 1. August 1994 von vielen Polen als die „echte und lang erwartete Antwort des höchsten Vertreters Deutschlands auf die Botschaft der polnischen Bischöfe von 1965“ (119) empfunden wurde. Auch deutsche Heimatvertriebene könnten mit Bartoszewskis Satz leben: „Gutes tun, das klingt so leicht, man muß das Richtige tun. Aber nur so entsteht Wahrheit. Wahrheit, die der Mensch zum Leben braucht“ (59). Der Zeitgeschichtler Wolfgang Benz hat (trotz der Polemik in der F.A.Z vom 24. August 1998) eben „Richtiges“ gesagt, wenn er die nationalsozialistische Politik als Ursache des Unglücks bezeichnet, das am Ende des Zweiten Weltkrieges über die Opfer von Flucht und Vertreibung hereinbrach.

Die Botschaft Bartoszewskis, eines „leidenschaftlichen Humanisten“ (H. Böll), bleibt aktuell, und auch seine vielen Ehrungen von deutscher Seite dürfen uns nicht davon dispensieren, ihr immer neu ins Auge zu sehen. Dem Lebensbericht sind vor allem viele junge Leser und Leserinnen zu wünschen.

Stefan Hartmann

„Rabbi Bar Ghana sagte: Weshalb werden die Worte der Tora gleichnishaft mit dem Feuer verglichen? Es heißt: ,Sind nicht meine Worte wie Feuer, Spruch des Ewigen‘ (Jer 23,29)? Dies besagt: Wie das Feuer nicht allein brennt, so bleiben auch die Worte der Tora nicht bei einem Einzelnen stehen“ (bTaan 7a).

(FrRu NF  6/1999 Seite 54)